Stefan Voges

Literatur zum Heftthema


Fritz Breithaupt
Das narrative Gehirn. Was unsere Neuronen erzählen
Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2022
368 S., € 28,00, ISBN 978-3-518-58778-2
Mitte des 20. Jahrhunderts hat der Philosoph Wilhelm Schapp die bedenkenswerte Formel geprägt, dass der Mensch »in Geschichten verstrickt« sei. Diesem In-Geschichten-Verstricktsein des Menschen geht auch der Kognitionswissenschaftler Fritz Breithaupt in seinen Forschungen nach: Warum erzählen wir? Was bedeutet es, narrativ, also in Geschichten, zu denken? Anders als der Titel vermuten lässt, kommen neurowissenschaftliche Erkenntnisse weniger zur Sprache; gleichwohl bietet das Buch eine Reihe anregender Gedanken. Beispielsweise entwickelt der Autor die These, dass das Denken in Geschichten deshalb so reizvoll ist, weil es mit Emotionen belohnt wird. Daraus ließe sich die Frage ableiten, ob biblische Erzählungen heute so dargeboten werden, dass sie wirklich Emotionen wecken. In einem anderen Kapitel schlägt der Autor vor, Narrative, also gesellschaftliche Großerzählungen, als Krisenphänomene zu betrachten, die Krisen zu überstehen helfen – indem die Krise in eine Geschichte eingebaut wird, die weitergeht und eben nicht in der Krise endet. Damit ist ein Phänomen benannt, das sich bereits biblisch belegen lässt. Die stärkste Motivation für Breithaupts Plädoyer für das narrative Denken dürfte indes in der Multiversionalität liegen, in der Fähigkeit, beim Erleben von Geschichten (oder eben im narrativen Denken) verschiedene Versionen zu vermuten und Fantasien zu entwickeln, wie eine Geschichte weiter- und schließlich ausgeht. Auch zu dieser These gibt es einen theologischen Anknüpfungspunkt, beispielsweise in der Frage, wie die Geschichte der Erzählgemeinschaft Kirche weitergeht …


Johannes Merkel
Hören, Sehen, Staunen. Kulturgeschichte des mündlichen Erzählens
Hildesheim (Olms) 2021
598 S., € 39,80, ISBN 978-3-487-31210-1
Auf welche Quellen soll sich eine Geschichte des mündlichen Erzählens stützen, wenn doch das Wort, gleich nachdem es ausgesprochen wurde, verflogen ist und die Niederschrift schon eine erste Veränderung, um nicht zu sagen: Verflachung bedeutet? Der in dieser Frage anklingenden Schwierigkeit stellt sich Johannes Merkel und meistert sie fundiert und unterhaltsam. Aus verschiedensten Quellen trägt er ein, trotz der unvermeidlichen Begrenzung durch zwei Buchdeckel, globales Kompendium zusammen, in dem er alle Kontinente erfasst, das Erzählen im Laufe der Zeit schildert und en passant spannende Fragen zum Erzählen stellt: Welche Rolle spielen beim Erzählen eigentlich die Zuhörenden? Erzählen Männer und Frauen anders und Anderes? Wie wird in verschiedenen religiösen Traditionen erzählt? Der Blick auf vielfältige Erzählzusammenhänge macht die abstrakte Beobachtung, Erzählen sei ein Ur-Bedürfnis und zeitloser Ausdruck menschlichen Zusammenlebens, anschaulich. Durchsetzt ist die faszinierende Darstellung von Geschichten, die weit mehr sind als Belege – sie machen immer wieder neugierig und nehmen mit hinein in den Streifzug durch die Welt des Erzählens (und des Zuhörens). Vor diesem Hintergrund werden Leser*innen dankbar annehmen, dass das letzte Kapitel über Erzählen in der Mediengesellschaft dazu aufruft, eine alte Kunst wiederzubeleben.


Ilse Müllner/Barbara Schmitz
Perspektiven. Biblische Texte und Narratologie
Stuttgart (Katholisches Bibelwerk) 2018
400 S., ISBN 978-3-460-00751-2
Der Gewinn, den die biblische Wissenschaft aus der Anwendung literaturwissenschaftlicher, genauer: narratologischer Ansätze ziehen kann, wird in diesem Sammelband aufgezeigt, den Ilse Müllner mit einem hilfreichen Überblicksartikel eröffnet. Die Beiträge dokumentieren zum einen, dass die Ansätze nicht nur auf erzählende Texte im engeren Sinne, sondern auf eine Bandbreite von Texten und Gattungen angewendet werden können. So werden alle Teile des Ersten Testaments – Tora, Geschichtsbücher, Psalmen, Prophetie – und einige außerbiblische Texte exemplarisch erfasst. Zum andern greifen die Autor*innen verschiedene Aspekte der Narratologie auf. Beispielsweise untersucht Christoph Dohmen die schon im Buchtitel genannten Perspektiven bzw. deren erzählerischen Einsatz in der Sintflutgeschichte. Benedict Schöning nimmt eine Prolepse, einen zeitlichen Vorverweis im Erzählfluss, zum Ausgangspunkt für eine Analyse von 1 Sam 17 und deutet sie als Leseanleitung für die weitere Daviderzählung. In mehreren Beiträgen steht die Erzählstimme im Fokus, also jene Instanz, die im Text die erzählte Welt erschafft. So führt Barbara Schmitz am Beispiel des Zweiten Makkabäerbuchs vor Augen, dass die Analysen der Erzählstimme und der Figuren sich wechselseitig ergänzen und präzisieren. Überdies macht sie deutlich, dass narratologische Analysen sich nicht auf den Text beschränken, sondern auch Anknüpfungspunkte für die historische Einordnung des Textes bieten.


Florian Wilk
Erzählstrukturen im Neuen Testament. Methodik und Relevanz der Gliederung narrativer Texte
Tübingen (Mohr Siebeck) 2016
184 S., ISBN 978-3-8252-4559-7
Dem vermutlich großartigen Erzähler Jesus oder den sprechenden Evangelisten einmal in persona zu lauschen, das ist leider unmöglich. Erzählstrukturen im Neuen Testament können (leider) nur in schriftlichen Erzählungen ausgemacht werden. Dazu legt Florian Wilk einen Ansatz vor, der für die Durchdringung und Deutung biblischer Erzähltexte hilfreich sein kann. Er unterscheidet vier analytische Zugänge: Dabei bezieht sich die Analyse des Themas und des Inventars, also des Wer-Wann-Wo einer Geschichte, auf den Inhalt; die Gestalt einer Erzählung kommt über die Analyse des Erzählstils und der sprachlichen Merkmale in den Blick. Diese Schritte der Texterschließung sind im Einzelnen nicht neu. Sie werden jedoch in einen systematischen Zusammenhang gebracht und exemplarisch durchgeführt. An den Beispielen und auch an den abschließend entwickelten Leitfragen wird deutlich, dass eine solche systematische Herangehensweise nicht nur zum Zwecke des Studiums, sondern auch für eine neugierige Relektüre bekannter Texte geeignet ist. Denn die verschiedenen, mitunter kleinteiligen Analysen können, insbesondere wenn ihre Ergebnisse nicht alle auf einer Linie liegen, neue Dimensionen aufdecken und Vorannahmen über bekannte Texte ins Wanken bringen.


Simone Merkel
Bibelerzählen. Impulse – Methoden – Beispiele. Ein Lese- und Lernbuch
Neukirchen-Vluyn (Neukirchener) 2020
256 S., € 30,00, ISBN 978-3-7615-6699-2

Martina Steinkühler
Bibelgeschichten sind Lebensgeschichten. Erzählen in Familie, Gemeinde und Schule
Kassel (Oncken) 2022
288 S., € 28,95, ISBN 978-3-87939-631-3
Eigentlich läge es nahe, biblische Geschichten zu erzählen anstatt sie vorzulesen, entstammen sie doch einer mündlichen Kultur. Dem steht jedoch zum einen die Treue zur überlieferten Textgestalt entgegen, zum andern die Tatsache, dass das mündliche Erzählen von Geschichten, ob biblisch oder nicht, heute weitgehend aus der Mode gekommen ist. Während das erste Hindernis der theologischen Überwindung bedarf, kann das zweite durch einen praktischen Ansatz angegangen werden, indem Menschen zum Erzählen angeleitet und ermutigt werden.
Simone Merkel stellt sich dieser Aufgabe auf verständliche und anregende Art und Weise in ihrem Buch. Dem »Bibelerzählen« nähert sie sich über zwei Kapitel zum Erzählen allgemein und zum Mundwerk der Erzählerin. Den Besonderheiten des biblischen Erzählens widmet sie sich im dritten Kapitel, in dem sie auch den »heiligen Moment« einführt. Mit dem heiligen Moment bezeichnet die Autorin den Moment – die Szene, das Motiv oder den Augenblick – einer biblischen Geschichte, der für Erzähler*innen wichtiger ist als andere Elemente einer Geschichte und deshalb zum »Herz der Erzählung« wird. Mit diesem Motiv des heiligen Moments wird auf anschauliche Weise der besondere, existenzielle Charakter biblischer Texte mit der Notwendigkeit eines persönlichen Bedeutungsankers für das freie Erzählen verknüpft. Das Buch bietet darüber hinaus zahlreiche Beispiele, Aufgaben und Reflexionsfragen sowie praxisorientierte Zusammenfassungen.
Mit Blick auf die Praxis und aus der persönlichen Erfahrung schöpfend führt auch Martina Steinkühler in das Erzählen biblischer Geschichten ein. Gemäß dem Titel ist es ihr Ziel, Bibelgeschichten als Lebensgeschichten zugänglich zu machen. Im Mittelpunkt des Buches stehen Praxisbeispiele für unterschiedliche Zielgruppen, in denen die Autorin Erzählvarianten biblischer Geschichten präsentiert und über ihre jeweiligen Erzählentscheidungen Auskunft gibt. So illustriert sie ihre Leitlinie für das biblische Erzählen, nämlich erkennbar subjektiv zu erzählen, deutlich die Spuren von Gotteserfahrungen erkennen zu lassen und die Geschichte offen zu halten für das Wunderbare Gottes. Weitere Kapitel sind der theologischen Vergewisserung biblischen Erzählens gewidmet sowie der praktischen Anleitung, die am Ende in zwölf Planen- und Prüfen-Schritten zusammengefasst wird.
Beide Titel sind – vor allem im Zusammenspiel mit entsprechenden Fortbildungen – dazu geeignet, die Lust am Erzählen biblischer Geschichten neu zu wecken und dafür gute theologische und praktische Grundlagen zu schaffen.


Weitersagen! – Bibel und Erzählen
Bibel heute 3/2016
Einen Überblick über das Erzählen in der Bibel und das Erzählen von biblischen Texten bietet das Bibel-heute-Heft »Weitersagen! – Bibel und Erzählen«. Die Beiträge gehen beispielsweise den Fragen nach, warum in der Bibel überhaupt erzählt wird, warum im Markus-Evangelium das Erzählen verboten ist und warum biblische Texte heute nicht nur gelesen und vorgelesen, sondern erzählt werden sollten (siehe S. 181).

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