Literatur zum Heftthema
Hypotheken der Mitverantwortung: Christlicher Antisemitismus und (Post-)Kolonialität
In den letzten Jahren ist das Thema Postkolonialität im deutschen Sprachraum zunehmend wichtiger geworden, beeinflusst von der Black-Lives-Matter-Bewegung, der Rückgabe der Benin-Bronzen u. a. Beklemmend dagegen ist, wie seit dem 7. Oktober 2023 sich vor Ort und weltweit der Judenhass verstärkt. Das Gefühl der Verantwortung für eine ausstehende »Hypothek« der Theologie, die damit in Zusammenhang steht, zeigt sich in vier aktuellen Werken, die sich auf den Umgang mit der Bibel beziehen.
Andreas Benk
Christentum, Antisemitismus und Schoah
Warum der christliche Glaube sich ändern muss
Ostfildern (Matthias Grünewald) 2022
268 S., 29,00 €, ISBN 978-3-7867-3319-5
Andreas Pangritz
Die Schattenseite des Christentums
Theologie und Antisemitismus
Stuttgart (Kohlhammer) 2022
218 S., 29,00 €, ISBN 978-3-17-040046-7
Man könnte vermuten, dass die zahllosen Publikationen rund um den jüdisch-christlichen Dialog und die historische Aufarbeitung von Antisemitismus und Schoah längst den Zenit der Forschung erreicht haben. Stattdessen zeigen die beiden Werke von Benk und Pangritz, dass auch in der Theologie noch Hypotheken einzulösen sind. Pangritz’ Buch ist die Ausarbeitung einer Vorlesung zum Thema Antisemitismus, die sich zu Teilen aus Beobachtungen rund um das Luther-Jubiläum und den Antisemitismusbericht der deutschen Bundesregierung (beides 2017) drehen. Ein zentrales Motiv dieser Arbeit ist die Frage nach dem angemessenen Umgang mit Martin Luthers ambivalenten und schließlich judenfeindlichen Aussagen und ihrer Rezeption in den reformierten Traditionen (Pangritz 12; 14; 67–83; 191; 194).
Benk hat als katholischer Vertreter eine andere Stoßrichtung. Für ihn ist es beschämend, dass es von evangelischer Seite ein klares Anerkennen eigener Schuld im Zusammenhang von christlichem Denken und Auschwitz gibt, wohingegen die römisch-katholische Kirche zwar das Geschehene verurteilt und sich um Änderung bemüht, jedoch kein klares Eingeständnis der eigenen Mitverantwortung ausspricht (Benk 92; 102f.; Pangritz 12). Wie ein Credo zieht sich bei Benk ein Gedanke durch das Buch, der bereits im Vorwort explizit begegnet: »Meine römisch-katholische Kirche trägt Schuld« (Benk 1).
Beide Autoren interessieren sich für die Aufarbeitung der Genese von Antisemitismus und Judenhass. Bereits vorhandene Studien werden als eine Art Metastudie und persönliches Fazit systematisiert. Für beide Autoren ist klar, dass Antisemitismus christlichen Ursprungs ist (Pangritz 17; Benk 42f.). Dadurch, dass das Alte Testament gegenüber den NT-Texten geringer geachtet wurde, wuchs auch die Abwertung der jüdischen Religion (Benk 20–42; Pangritz 95–110). Aussagen bestimmter Kirchenväter, vor allem im 4. Jh., sind schon Marker eines zunehmenden und theologisch gerechtfertigten Judenhasses in der Antike (Benk 43–52; Pangritz 37–54). Im Laufe des Spätmittelalters bis ins 19. Jh. transformieren sich die Formen des Judenhasses und gehen in die Kultur ein (Pangritz 27; 34). So kommt es zu Pogromen und Legendenbildungen, unter denen angebliche Hostienschändung, Kindsmordlegenden und später der »ewige Jude Ahasver« zu den bekanntesten zählen (Pangritz 55–66; 85–94).
Mit der Prägung des Begriffs »Antisemitismus« und dem Gipfelpunkt des Judenhasses in der Schoah befassen sich beide Autoren ausführlich. Im Fokus steht jeweils das Verhalten der je eigenen Konfession und der Umgang mit deren Verantwortung in den ersten Jahren nach dem Krieg (Benk 53–55; 63–88; 99–102; Pangritz 111–133; 155–177).
In ihren Werken kommen beide Autoren zu der Aussage, es gebe in der christlichen Aufarbeitung, Prävention und theologischen Anpassung noch viel zu tun. Pangritz verweist auf den o. g. Antisemitismusbericht, der feststellt, dass christlicher Glaube weder vor Antisemitismus, noch vor Islamfeindlichkeit oder Homophobie schütze (Pangritz 14). Im letzten Viertel des Buches befasst er sich mit Bonhoeffer und Barth und zeigt, wie sie aus den Ambivalenzen ihrer Konfession herausfanden und einen neuen Umgang mit dem Judentum fanden. Sie wiesen z. B. auf, dass es christologisch notwendig sei, das Judentum als »natürliche Umgebung« Jesu zu sehen (Pangritz 171–186: 172f.; 175). Gerade die Rückbesinnung auf den jüdischen Jesus ist im Dialog der letzten Jahrzehnte fruchtbar geworden (Pangritz 185). Trotzdem gibt es noch dringenden Änderungsbedarf am christlichen Lehrgebäude. Das zeige z. B. die ökumenische Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999, in der eine judenfeindliche Aussage Luthers aufgenommen und so »Ökumene auf Kosten Dritter« gemacht wurde (Pangritz 194).
Benk betont die Mitschuld der katholischen Kirche an der Schoah und fordert deren Anerkennung und Benennung, um dann eine erneuerte Kirche und Theologie hervorzubringen. Für ihn gibt es eine »bis in den Wesenskern von Judenfeindschaft infiltrierte« Kirche, sodass »zwischen Jesus und Christentum ein Bruch« besteht (Benk 81; 31). Man müsse daher herausfinden, was die (eigentliche) Botschaft Jesu sei, und von ihr ausgehend handeln; der historischen Leben-Jesu-Forschung räumt er dabei einen beschränkten Raum ein (31; 203; 229f.). Dazu brauche man zunächst vier Einsichten und aus ihnen folgende Vorgangsweisen (Benk 83; 191): Man müsse zunächst die eigene Geschichte ungeschönt und ungemildert wahrnehmen; sie dann öffentlich anerkennen und ein Schuldbekenntnis ablegen; daraus folgend Verantwortung für diese Schuld übernehmen und sich völlig neu bestimmen. Diese Neubestimmung soll vor allem »unheilvolle Exklusivitätsansprüche« aufgeben und zu einer menschenrechtsorientierten Kirche führen (Benk, 83; 125–188; 201–228).
Seine vermutlich streitbarste Aussage lautet: »Die revidierte Theologie, die hier gefordert wird […]: Christlicher Glaube ist keine Religion, deren Wesen sich in dogmatischen Sätzen formulieren ließe, die für wahr halten muss, wer Christ*in sein will […] Die an den Universitäten gelehrte Dogmatik sollte sich darum endlich als rein historische und nicht länger als normative Disziplin verstehen.« (Benk 19)
Benk sieht einen wichtigen Mechanismus des Antisemitismus im Othering (»Ver-Anderung«) der Jüdinnen und Juden, welcher sie als fremd und nicht dazugehörig markieren soll (Benk 60f.). Der gleiche Mechanismus greift im Kontext vieler Diskriminierungsformen und spielt deshalb auch eine wesentliche Rolle im postkolonialen Diskurs.
Stefan Silber
Postkoloniale Theologien
Tübingen (Narr Francke Attempto) 2021
272 S., 29,90 €, ISBN 978-3-8252-5669-2
Ottmar Fuchs
Nichts ist unmöglich. Gott!
Aspekte einer postkolonialen Bibelhermeneutik
Würzburg (Echter) 2023
248 S., 19,90 €, ISBN 978-3-429-05849-4
Silber und Fuchs nähern sich eben diesem Thema von zwei unterschiedlichen Richtungen: Silber ist systematischer Theologe mit einem befreiungstheologischen Hintergrund, Fuchs ist praktischer Theologe mit europäisch geprägter politischer Theologie. Beide sehen Bedarf für eine Neuausrichtung in Theologie und Kirche, wobei Fuchs die Vision einer »Kirche ohne Hintergedanken« vorlegt (Fuchs 238f.).
Silber legt eine sorgfältig recherchierte Einleitung in Postkoloniale Theologie vor, die erste ihrer Art in Deutschland. Für ihn sind gerade auch biblische Texte und Hermeneutik relevant, die immer wieder einfließen. Auch hier kennt es sich gut aus, er verweist auf exegetische Arbeiten zu bekannten Stellen, etwa der Landnahme Kanaans, dem Umgang mit dem Gottesknecht-Motiv, die Rutgeschichte oder Empire-Theorien. Unbeachtet sind leider die Arbeiten von David Carr und seinem Forschungskreis, welche bis zu einem gewissen Grad für die biblische Auseinandersetzung mit Postkolonialität und Imperialismus bahnbrechend sind. Gut im Blick hat er dafür afrikanische (Musa Dube, Gerald West) und indigene Exegese-Techniken (Silber 125–138).
Neben der Einführung in das Thema legt Silber auch instruktive Ideen vor, was von europäischer Theologie gefordert werden könne. Zum einen brauche es eine »Ent-evangelisierung« (Silber 212) kolonialer Kontexte, welche den Weg für deren eigene kulturelle Formen des Theologisierens freimache. Noch dringlicher erscheint die Aufforderung, Europa im postkolonialen Diskurs stärker als Objekt denn als Subjekt der theologischen Reflexion zu sehen. Es gehe darum zu akzeptieren, dass »Europa weiß« es nicht besser wisse oder »zuverlässigere und adäquatere Methoden« der Theologie habe (Silber 232).
Mit dieser Perspektive im Hinterkopf zeigt sich die Andersartigkeit des Zugangs von Fuchs. Auch er hat eine »Option für die Armen« und für die Suche nach globaler Gerechtigkeit sowie Kritik am Othering. Biblisch argumentiert er für einen freiheitsliebenden Gott, der sich gegen Sklaverei ausspricht und für den nichts unmöglich ist (Fuchs 21; 83: Buchtitel nach Lk 1,37). Auf gewaltvolle Stellen in der Bibel reagiert er einerseits mit einer Sprache der Klage, andererseits sieht er in der biblischen Sprache das Durchspielen von Szenarien, um die Menschen von Untaten abzuschrecken (Fuchs 53; 81). Wer Gewalt in der eigenen heiligen Schrift habe, brauche dafür gleichzeitig vernünftiges Verständnis von »Nachahmungshermeneutik« einerseits und keine verharmlosende »Entwirklichung« der Gewaltsprache andererseits (Fuchs 125; 130). Ist jedoch Leid geschehen, so komme es auf den Umgang damit und die persönliche Antwort auf die Theodizee an, die bei Fuchs auch in anderen Werken immer wieder eine Rolle spielt (Fuchs 106; 108).
Die genannten politisch-theologischen Zugänge und Themen nehmen einen Großteil von Fuchs’ Buch ein. Sie decken sich inhaltlich – wenn auch nicht kontextuell-hermeneutisch – mit der neueren postkolonialen Forschung und helfen so, sie im deutschen Sprachraum bekannter zu machen.
Fuchs bezieht sich gelegentlich auf das Buch von Silber (z. B. Fuchs 42; 45), doch seine Beispiele und Ausführungen widersprechen ihm teils diametral. So ist für Silber klar, dass es bei postkolonialen Ansätzen immer um konkrete (historische) Realität geht, bei Fuchs findet sich eine eher spiritualisierte Definition (Fuchs 12; 91). Einig sind sich beide bei der Kritik an »epistemischer Ausbeutung«, d. h. an der Wissens-/Konzeptübernahme kolonialisierter Völker. Doch während Silber dies umgeht, indem er die Akteurinnen und ihre Methoden und Einsichten vorstellt, adaptiert Fuchs postkoloniale Hermeneutik für eigene Kontexte (Fuchs 49) und riskiert so in eben benannten Fallstrick zu laufen.
Fuchs stellt fest, die Bibel habe sowohl koloniale als auch anti-koloniale Texte (Fuchs 75). Er erklärt dabei nicht, ob er dies von der historischen Genese der Texte her versteht oder ob dies für ihn eine ontologische Aussage ist. Trifft Letzteres zu, dann müsste die Bibel dekolonialisiert werden.
Fuchs kritisiert Othering und spricht davon, die anderen in ihrer Andersheit zu akzeptieren und als erwählt zu betrachten (Fuchs 101). Jedoch zugleich zementiert er damit, dass sie »anders« seien. Schwierig bis unsensibel sind einige Aussagen zu Judentum und Israelpolitik. Exemplarisch sei verwiesen auf seine Aussage, Antisemitismus sei eine Form von Kolonialismus, die Staatssouveränität Israels aber sei postkolonial (Fuchs 36–38); eine Aussage, die in den einschlägigen Diskursen über Orientalismus m. E. stark diskutiert würde.
Alle vier Beiträge zeigen, dass es theologischen wie kirchlichen Handlungsbedarf im Bereich des Politischen gibt. Während das klare Statement der Deutschen Bischofskonferenz im März 2024 und Positionierungen im Nahost-Konflikt realpolitisch wichtig sind, liegt die Aufgabe der Forschenden noch in einem weiteren Bereich. Es gilt dazuzulernen, schonungslos das eigene (europäische und deutsche) Erbe aufzuarbeiten und jene Auslegungen und Theorien aus der Theologie zu disqualifizieren, die Diskriminierung, Übergriffe und schließlich sogar Genozide befördert haben, um zu garantieren: Nie wieder.
Benedikt J. Collinet
Bitte beachten Sie auch unsere Biblische Bücherschau im Internet, in der Stefan Silber viele Buchtitel rezensiert hat, die zum Thema passen! Gehen Sie einfach auf der Startseite www.bibelwerk.de/verein auf die Bücherschau und geben Sie unter »Rezensent/in« den Namen von Stefan Silber ein.
Viel Spaß beim Lesen! Ihre BiKi-Redaktion